Aus dem Bi [70/2017]: (BE)ACHTET DEN UKE
1. Uke und Tori im Budoalltag
Budoka trainieren nicht vorrangig miteinander, um eine gemeinsame
Aufgabe zu bewältigen, sondern sie verfolgen eigene Ziele und
Interessen; in der Regel geht es ihnen um die Verbesserung der persönlichen
Fähigkeiten. Da die Individualinteressen der Beteiligten
gegenüber gemeinschaftlichen Interessen im Vordergrund stehen,
ist der Budosport kein Teamsport im eigentlichen Sinne. Gleichwohl
wird ein Partner für das Training zwingend benötigt. Mit anderen
Worten: Ohne einen Partner geht fast nichts. Tori und Uke bilden
im Trainingsalltag auf der niedrigsten Beziehungsebene zumindest
eine Zweckgemeinschaft, in der zwar kein gemeinsamer Erfolg angestrebt
wird, der eine aber den anderen braucht. In einer solchen
Zweckgemeinschaft wird in der Regel in der Anfangszeit einer Budo-
Laufbahn trainiert. Aber auch eine Zweckgemeinschaft kann nur
funktionieren, wenn jeder sein Bestes gibt. Schon auf dieser Ebene
gilt also, dass nur derjenige, der sich selbst Mühe gibt, darauf hoffen
kann, dass sein Gegenüber Gleiches tut.
Haben die Beteiligten aber nicht nur die eigene Entwicklung,
sondern auch die des Partners vor Augen, dann wird aus der Zweckgemeinschaft
eine Zusammenarbeit bzw. die Beteiligten werden
Trainingspartner. Von einer solchen „Budo-Partnerschaft“ kann
man immer dann sprechen, wenn einer der beiden den anderen
besser machen will oder – so der Idealfall – sich beide gegenseitig
besser machen wollen. Auf dieser Ebene bringen sich die beiden
Partner gegenseitig nach vorne, indem sie sich unterstützen, sich
helfen und sich kritisieren.
2. Der Beitrag des Uke zum Gelingen einer Prüfung
Beim Zusammenwirken von Uke und Tori im Rahmen einer Prüfung
ist die Situation eine andere. Tori und Uke streben gemeinschaftlich
ein Ziel an und damit wird aus der Zweckgemeinschaft bzw. den
Partnern ein Team. Dem steht nicht entgegen, dass das Ergebnis
des gemeinsamen Schaffens nur dem Prüfling zu Gute kommt.
Es ist aber genau dieser Aspekt, der die „Prüfungsleistung“ des
Uke in ein besonderes Licht rückt und das „Budo-Team“ zu etwas
Besonderem macht. Der Uke hat genauso viel Arbeit gehabt wie
der Tori, hat sich wochen- und monatelang zum Training gequält,
hat gearbeitet, hat auswendig gelernt. Darüber hinaus hat er – und
das ist der weitaus bedeutendste Beitrag –, ohne selbst einen unmittelbaren
Vorteil zu haben, uneigennützig Verantwortung für den
Erfolg bzw. das Weiterkommen eines anderen übernommen. Denn
klar ist, Fehler im Übermaß darf sich ein Uke nicht leisten. Ein nachlässig
auftretender Uke wirkt sich zwangsläufig nachteilig auf den
Gesamteindruck
aus, den ein Prüfer von der Prüfung und damit
auch von dem Prüfling bekommt. Ist eine gemeinsame Kata Prüfungsgegenstand,
kann ein kleiner Fehler des Uke sogar das Nichtbestehen
der Prüfung zur Folge haben. Neben der Zuverlässigkeit
und der Bereitschaft, sich für den Tori einzusetzen, hängt das gute
Gelingen einer Prüfung zu ganz entscheidenden Teilen aber auch
von dem Verhalten des Uke während der Prüfung ab. Ein guter Uke
ist nervenstark und körperlich fit; er ist geschmeidig und kann aus
jeder Position und Situation fallen. Darüber hinaus führt ein guter
Uke durch die Prüfung, nimmt dem Tori die Nervosität und lässt ihn
gut aussehen. Er gibt das Tempo vor, greift beherzt an, gönnt dem
Tori aber zwischen den Techniken auch seine Ruhephasen. Auf den
Punkt gebracht: Ohne einen guten Uke kann auch der beste Tori
niemals eine wirklich gute Prüfung ablegen; demgegenüber kann
ein guter Uke eine auf der Kippe stehende Prüfung entscheidend
aufwerten bzw. aus einer guten Prüfung eine sehr gute machen. Vor
diesem Hintergrund ist es die Pflicht eines jeden Tori, seinen Prüfungs-
Uke mit Respekt und äußerster Wertschätzung zu behandeln.
Der Uke selbst hat – wie oben erwähnt – keinen direkten Nutzen
von seinem Einsatz; jedoch wird der Uke natürlich insbesondere
wegen seiner Fähigkeiten ausgewählt. Entscheidend für die
Auswahl eines Uke sind sein fachliches Können, aber auch seine
charakterlichen Eigenschaften, beispielsweise Zuverlässigkeit
und Einsatzwille. So betrachtet ist es also durchaus ein Ausdruck
besonderer Wertschätzung und vor allen Dingen besonderen Vertrauens,
wenn man als Partner für eine Prüfung ausgewählt wird.
Anders ausgedrückt: Das entgegengebrachte Vertrauen ist der Lohn
des Uke. Darüber hinaus gewinnt der Uke natürlich durch das Erleben
und Bestehen einer Prüfungssituation an Erfahrung. Auch vor
diesem Hintergrund sollte das „Uke-Sein“ nicht ausschließlich als
Mühe oder Belastung gesehen werden.
Aus den Erkenntnissen, dass eine Prüfung mit einem guten Uke
besser gelingt und auch der Uke in gewisser Weise von der Teilnahme
an der Prüfung profitiert, ergibt sich zum einen, dass insbesondere
bei höheren Gürtelprüfungen der Uke mit großer Sorgfalt
ausgesucht werden sollte. Zum anderen gehört es zum Budoalltag,
selbst auch Uke zu sein. Vor diesem Hintergrund sollte es jeder
Budoka anstreben, ein guter Uke zu werden und sich dementsprechend
auch als Uke für Prüfungen zur Verfügung stellen. Denn
letztlich kann nur so gewährleistet werden, dass alle in einem Dojo
trainierenden Budoka ihre Prüfungen ablegen können. Grundsätzlich
gilt, dass nur wer bereit ist, ein guter Uke zu sein, auch darauf
hoffen kann, einen guten Uke zu bekommen.
3. Das Geben und Nehmen im Budosport
Egal ob Zweckgemeinschaft, Partnerschaft oder Prüfungsteam,
jeder, der Budosport betreibt, benötigt einen Uke und muss sich
selbst als Uke zur Verfügung stellen. Das „Uke-sein“ ist daher mit
dem Budosport eng verwoben und genauso wichtig wie die Rolle
des Tori. Eine für beide Seiten gewinnbringende Tori-Uke-Beziehung
ist auf jeder Beziehungsebene eine Sache des selbstverständlichen
und ausgewogenen Gebens und Nehmens. Nur wer sich Mühe gibt,
kann darauf hoffen, dass sein Gegenüber dies auch tut. Nur wer
einen anderen besser machen will, kann auch darauf hoffen, von
einem anderen besser gemacht zu werden. Dieses Miteinander
macht den Budosport zu etwas Besonderem bzw. unterscheidet ihn
von anderen Sportarten. Und letztlich ist es auch genau dieser Aspekt,
der ein Dojo zu einem besonderen Ort macht. Ein Dojo ist kein
Ort für Menschen, die nur ihre eigenen Interessen im Blick haben.
Ein Dojo ist kein Ort, an dem mit Ellenbogen gearbeitet wird. Ein
Dojo ist ein Ort, an dem miteinander gearbeitet, aufeinander und
einander geachtet wird. Und so werden beim Budotraining ganz nebenbei
Werte realisiert, die im Alltag manchmal etwas zu kurz kommen.
Aber genau aus diesem Grund fühlen wir uns in „unserem“
Dojo oftmals sehr wohl.
Das Nehmen und Geben ist nicht nur in der Uke-Tori-Beziehung
wesentlicher Bestandteil des Budosports. Es gilt im weitesten Sinne
auch für das Gesamtsystem „Budo“: Als Schüler empfängt man
von seinem Meister; wenn man es dann zu Meisterwürden gebracht
hat, gibt man das Gelernte und die gewonnenen eigenen Erkenntnisse
an seine Schüler zurück. Dieser „Kreislauf“ ist wesentlich für
den Wissenstransfer innerhalb eines Dojos und letztlich auch für
den Bestand eines Systems. So wird gewährleistet, dass Wissen
weitergegeben und Systeme weiterentwickelt werden.
4. Fazit
Das ausgewogene Geben und Nehmen eines jeden einzelnen Budoka
ist der entscheidende Faktor für das Funktionieren des Budosports.
Das Miteinander von Tori und Uke lebt davon, dass jeder
sein Bestes gibt, und das Gesamtsystem „Budo“ lebt davon, dass
entgegengenommenes Wissen weitergegeben wird. Freude und
Erfolg wird auf die Dauer daher nur derjenige haben, für den das
Geben genauso selbstverständlich ist wie das Nehmen. Wer sein
Verhalten danach ausrichtet, wird neben einem erfüllten „Budo-Leben“
wahrscheinlich auch seinen Alltag bereichern; denn mit jemandem,
der einem Menschen mit Achtung begegnet und nicht nur
nimmt, ist man einfach auch gerne zusammen.