Frühe Spuren

Die Ursprünge der chinesischen „Kunst des Faustkampfes“ (Ch’uan Shu) gehen in die älteste Vergangenheit Chinas zurück und sind nicht das Ergebnis der geistigen Leistung eines einzelnen Menschen. Sie gehen vielmehr auf eine jahrhundertelange Entwicklung zurück, in der sie immer neuen Wandlungen unterlagen, um an die Bedürfnisse der Menschen ihrer Zeit angepaßt zu werden. Bereits Töpfereien und Wandfresken (Tien Sien) aus dem Jahre 1400 v. Chr. zeigen eine Art Kampf, in dem Schlagtechniken mit Faust und Fuß verwendet werden. Unter später datierten Funden befinden sich weiterhin Vasen, die dem 8. vorchristlichen Jahrhundert entstammen (Tcheo Lo Yi) und Kampfszenen schildern, deren Technik der Stilart des Shaolin ähnelt. Damit liegt das Aufkommen der chinesischen Boxkunst eindeutig vor dem Erscheinen des Bodhidharma (Daruma, Ta Mo; 480-557 n. Chr.) im legendären Shaolin-Kloster auf dem Berg Shu der Provin Henan. Dessen Ankunft im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung und ihre Bedeutung für die Gesamtheit der chinesischen Kampfsysteme werden bisweilen mißdeutet. Der Einfluß des Zen-Mönchs wirkte zwar auf Grund dessen Kenntnisse der indischen Kampfkunst Vajramushti durchaus modifizierend, jedoch nicht initiativ auf das Ch’uan Shu. Im Gegenteil gibt die Legende, Bodhidharma habe sich nach einer stürmischen Unterredung mit dem Kaiser in das Kloster zurückgezogen und dort hockend neun Jahre lang meditiert, einen möglichen Hinweis darauf, daß sein Beitrag mehr moralischer als physisch-technischer Natur war. Tatsächlich entwickelte sich im Bereich der Klssters Shaolin ein Kampfsystem hoher Perfektion und nahm im Laufe der Geschichte Einfluß auf andere Schulen. Ihre Bedeutung bleibt damit eine zentrale, doch die wirklichen Ursprünge ihrer Kunst sind in weitaus früheren historischen Epochen zu suchen. Entstehung der inneren und äußeren Schulen Schon um 220 v. Chr. hatte ein berühmter Arzt und Chirurg namens Hua Tuo eine Methode gegründet, die auf der Beobachtung der offensiven und defensiven Bewegungen von 5 Tieren basiert: Tiger (Kraft des Metalls), Hirsch (Kraft des Wassers), Affe (Kraft des Feuers), Bär (Kraft der Erde) und Reiher (Kraft der Luft). Etwa zur gleichen Zeit erschien die Shao Ti Schule (Jiaodi) – die erste, die sich historisch zurückverfolgen läßt. Obwohl damit bereits ausgearbeitete Formen der kampfkunst existierten, fand der chinesische Boxsport erst in der Han-Dynastie zu großer Popularität. In seinem Werk „Buch der Han-Dynastie“ widmet Pan Kuo (39-92 n. Chr.) ein ganzes Kapitel jener „Art des Kampfes mit bloßer Hand“. In dieser Zeit dominierte unter den bereits zahlreichen Schulen die des Shou Pu, und weitere bedeutenden Stile entwickelten sich zusehends. Auch das Kloster Shaolin wurde um das Jahr 100 unserer Zeitrechnung gegründet, dessen Mönchsschüler für ihren Kampfstil bekannt werden sollten. Nach ihrer Überzeugung war es ihnen verboten, Waffen zu tragen, und so erlernten die Mönche Kampfmethoden, die auf der Nutzung der natürlichen Kräfte des Körpers basierten, um sich vor den zu jener Zeit häufigen Angriffen auf Klöster zu schützen. Die Stile, welche auf dem Konzept des Shaolin basierten oder selbst ähnliche Methoden praktizierten, werden heute unter dem Begriff der „harten“ oder „äußeren Schulen“ (Wai-Ch’ia) zusammengefaßt. Im Laufe der Geschichte gewann das chinesische Boxen ein hohes Maß an Popularität, und immer mehr Schulen schossen wie Pilze aus dem Boden (z.B. Sze Hung-Pai). Selbst ein Kaiser begeisterte sich leidenschaftlich für diese Kunst (Sung Tai Jo) und man hielt ihn damals für einen der besten Fachleute seiner Zeit (10. Jahrhundert). Yao Fei, ein General der Nang Sung Dynastie (1103-1142), war als Experte der Lanzenwurfkunst bekannt und schuf das System Yao Shan Shou, das die Basis für alle Stile der „geschmeidigen“, „weichen“ oder „inneren Schulen“ darstellte. Das Konzept wurde von dem Taoisten Chang San Fung (1417-1459) aufgegriffen, der erkannt hatte, daß das Boxen eine bestimmte körperliche Kraft erforderte und mehr Schäden, Ärger und Enttäuschungen hervorrief als Segnungen mit sich brachte. Er gründete daraufhin den Stil der „geschmeidigen weichen Hand“ (Wu-Tank-Pai), der die Kraft des Gegners dazu benutzt, seinen Angriff abzuwehren. Die Methode des Chang San Fung hatte derartigen Erfolg, daß sie andere Stilarten in folgender Zeit zu ersetzten begann. Ihr Einfluß war so groß, daß einer der Meister des Shaolin, Kioh Yuan, das Ende der harten Stilarten kommen sah und sich Mitte des 16. Jahrhunderts entschloß, seine Technik zu modernisieren. Dazu reiste er zu den bedeutendsten Meistern Chinas und traf Pai Yu Fong und den Greis namens Li. Ins Kloster zurückgekehrt, kombinierten die drei Meister ihre individuellen Schulsysteme und schufen so „die fünfförmige Faust“. Die Methode basierte auf den alten Techniken des Hua Tuo, denen die Meister Techniken des Drachen, der Schlange, des Vogels Phönix und des Leoparden hinzufügten. Nach einigen Änderungen durch Chin Chun Dou und Chi Chi Kuan wurde das Shaolin-System zur führenden Schule des Landes und zum Modell für aufkommende Stile.

Bedrohung durch die Politik

Im Jahre 1723 führte die Zerstörung des Klosters durch die Mandschus zu einer ungeahnten Expansion des Ch’uan Shu. Die bereits zahlreich im Lande verteilten Schulen vermehrten sich nun unter dem Einfluß der geflohenen Mönche. Man zählte ihrer mehr als 1000 im ganzen Lande, und schließlich hatte fast jedes Dorf seinen Waffen- oder Box-Meister. Nach dieser Periode der blühenden Entwicklung wurde das chinesische Boxen von den Beamten der Mandschu-Dynastie verboten und geriet in den Untergrund. Erst Ende des 19. Jahrhunderts tauchte die Kunst des Faustkampfes wieder auf, um bald erneut in Bedrängnis zu geraten. Nur wenige Jahre später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde das alte, von westlichen Mächten besetzte Kaiserreich von einer nationalen Welle erschüttert. Zahlreiche Meister riefen ihre Schüler zur Revolte auf (Boxeraufstand; „Gesellschaft für Faustkampf, Gerechtigkeit und Eintracht“), die nur mit großer Mühe unter Zuhilfenahme von Feuerwaffen niedergeschlagen werden konnte (55 Tage Peking). Viele der Meister haben die Kampfhandlungen nicht überlebt, und das chinesische Boxen fiel abermals in einen Zustand der Verborgenheit zurück, wo es von wenigen Anhängern nur im Geheimen geübt wurde. Stile der Neuzeit In unserer Zeit haben die Kampfkünste durch die allgegenwärtige Begeisterung für sie eine unvorhersehbare Anhängerschaft gewonnen und werden von Millionen von Menschen ausgeübt. In der Volksrepublik China, wie auch in Formosa, ist ihre Ausübung allgemein üblich und fast schon zur Pflicht geworden. Dennoch ist es bis heute noch sehr schwierig, in die traditionellsten Schulen einzudringen, die ihre tausendjährigen Geheimnisse eifersüchtig bewachen. In der Vielzahl der Kung-Fu-Stile unterscheidet man heute zwei fundamentale Tendenzen, die verschiedenen theoretischen Konzepten folgen und in unterschiedlichen Praktiken resultieren. Die erste Theorie umfaßt die „äußeren Stilarten“ (auch „harte“ oder „Yang-Schule“) und preist das Erreichen der Meisterschaft durch eine vertiefte Kenntnis der körperlichen Techniken. Dazu gehören zum Beispiel Progression in Geschmeidigkeit, Widerstand gegen Ermüdung, Kampftraining, perfekter Koordination der Bewegungen, Kontrolle der Reflexe oder Schnelligkeit und Genauigkeit der Ausführung. Sobald ein höheres technisches Niveau erreicht ist, gewinnt die Suche nach der vitalen Energie (Chi) wesentlich an Wichtigkeit. Diese Schulen, mit dem repräsentativen Shaolin-Stil an der Spitze, kommen in Basis und Form bisweilen dem japanischen Karate nahe. Die Angriffs- und Verteidigungstechniken sowie spezifische Bewegungen werden dabei mit einer charakteristischen Suche nach Effizienz studiert. Die zweite Theorie betrifft die „inneren Stilarten“ (auch „geschmeidige“ oder „Yin-Schule“) und besteht primär auf die Suche nach der Energie in der Bewegung. Aus diesem Grund sind diese Stilarten für den Laien wenig demonstrativ, wenn nicht gar verschlossen. Hier spielt der kämpferische Teil viel stärker mit als in den sogenannten harten Schulen. Die drei Grundsysteme der inneren Schule sind Tai Chi Ch’uan („Boxen der Einheit des Körpers und des Geistes durch Aktion“), Pa Kua Ch’uan („Boxen der acht Trigramme“) und Hsing I Ch’uan. Das zu erreichende Ziel der beiden Boxarten war trotz ihrer Unterschiede stets das gleiche: es sollte gewährleistet werden, daß Körper und Geist sich in dem erforderlichen Gleichgewicht für ein harmonisches Leben befinden. Weiterhin galt es, die vitale Energie (Chi) zu meistern, bei guter Gesundheit zu bleiben und kommende Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können.

Chinesische Kampfkunst heute

Heute zählt man ohne viel Mühe ca. 60 bedeutende Schulen, deren Zugehörigkeit zu einem der beiden genannten Konzepte oft nicht eindeutig ist. Es gibt viele Zwischenstufen, die Vorteile beider Methoden verbinden und damit die Vielfalt der chinesischen Kampfkunst erweitern, zugleich jedoch eine Systematisierung wesentlich erschweren. Bisweilen bilden dabei die härtesten Systeme der inneren Schulen auch gleichzeitig die weichsten der äußeren Schulen. Weitere Probleme auf dem Gebiet der Übersichtlichkeit bereiten zudem auch regionale Differenzen zwischen einzelnen Stilen oder Meistern. Durch Auswanderung der Menschen in andere Gebiete des Landes und ins Ausland etstanden Überschneidungen in der Terminologie – unterschiedliche Stile sind unter dem gleichen Namen bekannt, Meister des gleichen Stils benutzen auf Grund ihres Sprachraums verschiedene Bezeichnungen, die sich in anderen Gebieten wiederum auf andere Systeme beziehen. Die innere Organisation der chinesischen Schulen des Kung Fu weicht von den bekannten Konzepten aus Japan ab. Graduierungsdifferenzen in diesem Sinne gibt es nicht, und die Aktiven werden lediglich nach ihrer Funktion innerhalb des Stils und der Schule unterschieden. Unter diesen Positionen befinden sich der Gründer der Schule (Si Jo), der Meister (Si Gung), der Lehrer (Si Fu), der erste Assistent (Si Bak), der zweite Assistent (Si Sook), die alten Sportler (Si Hing), die Schüler (Toe Dai), die Anfänger (Si Dai), und die Schüler der Schüler (Toe Sven). Die Kampfkleidung der Sportler variiert in den Ursprungsländern je nach Schule und Stil – von Straßenanzug über die schwarze Hose und das weiße T-Shirt bis hin zum Kimono. In den meisten Fällen weist die Kleidung der Kämpfer auf größte Nüchternheit, während die Drachen, Tiger und goldenen Symbole auf schwarzem oder rosa Untergrund zumeist für den Export in den Westen bestimmt sind. Die Kopfbinde der Japaner ist verboten, der Gürtel wird, wenn überhaupt, mit dem Knoten auf der linken (für die Männer) oder rechten (für die Frauen) Seite getragen. Das Tragen des Knotens vorn bedeutet Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit und bringt den Auftretenden oft in delikate Situationen zur Umwelt und ihren Sitten. Als jahrtausendealte Kunst erfährt das chinesische Boxen in der modernen Gesellschaft die gleichen Probleme, denen auch Judo, Karate und Aikido zu Beginn begegnen mußten. Kommerzialisierung der Kunst, Konkurrenz der expandierenden Organisationen und Publikation auf Kosten der Authentizität vermindern die Möglichkeiten einer fundierten Ausbildung in original chinesischer Kampfkunst.